07.12.2020. Petre M. Andreevski durchpflügt hochmodern das archaische Mazedonien und begegnet Maulwürfen, die Männer in den Wahnsinn treiben. Polina Barskova erweckt die russischen Avantgardisten, die während der Leningrader Blockade verstummten, sinnlich und drastisch zu neuem Leben. Michael Maar führt mit prallem Leserwissen quer durchs Bücherregal, und Susie Hodge entdeckt vergessene Künstlerinnen aus fünf Jahrhunderten. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Dezember.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher
in unserem Buchladen eichendorff21 bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den
Perlentaucher, denn
eichendorff21 ist unser Buchladen.
Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per
E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich
hier anmelden.
Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.
Weitere Anregungen finden Sie in in der
Lyrikkolumne "Tagtigall", dem
"Fotolot", in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag",
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren
Büchern der Saison, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturPetre M. AndreevskiAlle Gesichter des TodesGuggolz Verlag. 205 Seiten. 22 Euro
(
Bestellen)
Der Titel klingt schon finster und entsprechend düster geht es auch zu in den Kurzgeschichten des mazedonischen Autors Petre M. Andreevski, warnen die KritikerInnen. Zugleich sind sie ganz hingerissen: Im
Dlf Kultur kann Katharina Döbler gar nicht fassen, wie
sprachgewaltig und erfahrungssatt der Autor erzählt - und dass Andreevski nicht aus Lateinamerika stammt, will sie angesichts des
magischen Realismus in den Geschichten auch kaum glauben. Da stören sie auch die vielen Toten, der Terror, die Geister und der Aberglaube im Buch nicht - die Sogkraft, die dem "distanziert düsteren" Ton eignet, führt ihr
Europa im 20.
Jahrhundert historisch genau,
poetisch,
volkstümlich und faszinierend vor Augen. Auch Judith Leister ist in der
NZZ hellauf begeistert: Wenn sie hier mit Andreevski ins
archaische Mazedonien Anfang des 20. Jahrhunderts abtaucht und Maulwürfen begegnet, die Männer in den Wahnsinn treiben, fühlt sie sich unweigerlich an Kafka erinnert. "Hochkondensiert,
hochmodern" nennt sie die Geschichten, die um Armut und patriarchalische Strukturen kreisen - und doch völlig auf Sozialkritik verzichten, lobt sie.
Clarice LispectorAber es wird regnenPenguin Verlag. 288 Seiten. 22 Euro
(
Bestellen)
Spätestens seit dem im vergangenen Jahr auch hierzulande erschienenen Erzählband
"Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" sollte die in der Ukraine geborenen und in Brasilien aufgewachsene Schriftstellerin Clarice Lispector größere Bekanntheit erlangt haben. Jetzt erscheint schon der zweite Band mit erstmals auf Deutsch erschienenen Texten - und
Dlf-Kultur-Kritikerin Maike Albath erkennt hier die ganze literarische Größe der Autorin, die ihr zufolge als "
Inbegriff der brasilianischen Moderne" gilt: Ganz gleich, ob ihr Lispector erzählt, wie sich ein Mädchen fühlt, dass sich in ein Huhn hineinversetzt oder von einer Frau, die in das Fleisch der von ihr beobachteten Menschen taucht - immer staunt sie über
Sogkraft,
Überraschungen, die merkwürdigen, komischen Situationen, in denen sich die Figuren finden, das raffinierte
Spiel mit Pointen und die "gnadenlosen" Charakterisierungen vor allem der weiblichen Psyche in den 44 Erzählungen. Wörter wie "
Köder"
entdeckt auf
Rbb-online auch Sarah Murrenhoff, die die Lektüre als geradezu "körperliche Erfahrung" wahrnimmt: "So zart, so poetisch schreibt nur Lispector über unser
Geworfensein in die Welt", meint sie.
Nell ZinkDas Hohe LiedRoman
Rowohlt Verlag. 512 Seiten. 25 Euro
(
Bestellen)
Als Chronik der jüngeren US-Geschichte empfehlen die KritikerInnen den neuen Roman der in Deutschland lebenden, amerikanischen Autorin Nell Zink, die uns in "Das Hohe Lied" zunächst ins
New York der Achtziger entführt, an der Seite der drei Punks Pam, Daniel und Joe, die das Leben inklusive Partys und Drogen in vollen Zügen genießen bis der 11. September dem hedonistischen Dasein der Freunde ein Ende setzt. Joe stirbt an einer Überdosis Heroin, Zink konzentriert sich von da an auf Pam und Daniels Tochter Flora, die als Klimaschutzaktivistin und schließlich Wahlkämpferin in der Kampagne der grünen Präsidentschaftskandidatin Jill Stein arbeitet.
SZ-Kritiker Christoph Schröder liest den Roman, der seiner Meinung nach mehr Erleuchtung als Spaß verspricht, als "Parodie" auf die Romane Sally Rooneys. Er lobt essayistische
Passagen zum Zeitgeist der jeweiligen Epochen, Zinks
Witz und ihre erkenntnisreichen
Erklärungen für den Trump-
Erfolg. Tempo- und pointenreich findet auch Carsten Otte in der
taz das Buch, das er nicht zuletzt als exakte
Milieustudie des US-Musikbusiness in den späten Achtzigern liest.
Lässigen Humor,
Drive und Überraschungen lobt Wiebke Porombka in der
FAZ, die Mischung aus "Schnoddrigkeit" und Einfühlungsvermögen dieses Generationenporträts hebt Ursula März im
Dlf-Kultur hervor. Auf eine Amerika-Reise der besonderen Art nimmt uns auch
Christina Maria Landerl in ihrem neuen Roman
"Alles von mir" (
bestellen) mit: In der
FAZ bewundert Elena Witzeck nicht nur, wie Landerl
große Gefühle in knappe Skizzen bannt, sondern lauscht während der Lektüre auch Songs von Billie Holliday und Bessie Smith.
Polina BarskovaLebende BilderSuhrkamp Verlag. 218 Seiten. 22 Euro
(
Bestellen)
Die in Leningrad geborene Polina Barskova debütierte bereits im
zarten Alter von acht Jahren als Lyrikerin, heute lehrt sie im amerikanischen Amherst Literaturwissenschaften. Nun ist ihr erster Prosaband auf Deutsch erschienen, und wie in ihrer Lyrik widmet sich Barskova dort den KünstlerInnen der
Leningrader Blockade. In der
FAZ ist Andreas Platthaus sehr dankbar, dass die Autorin hier die Stimmen jener Toten versammelt, die während der Blockade durch die deutsche Wehrmacht verstummten und deren Aufzeichnungen in den Petersburger Archiven eingeschlossen waren.
Russische Avantgarde vom Feinsten bietet dem Kritiker der Band, in den Barskova neben Aufzeichnungen, Märchen und Dialogen auch eigene Texte, oft ausgehend von den Originaltexten montiert hat. Bei Barskova "wird man in den Text gelockt, hinein- und wieder herausgerissen. Immer wieder wird etwas aufgebrochen, fängt an, endet abrupt - jedoch
nie ohne Sinnhaftigkeit, sie verleiht den Worten oft sogar eine ganz neue Bedeutung. Sätze können hier sinnlich und drastisch zugleich sein",
heißt es im
Fresko-Magazin. Bei
radioeins bespricht die Schriftstellerin Annett Gröschner den Band hymnisch, im
Interview mit dem Goethe-Institut spricht Barskova über die
Schicksale der russischen Intelligenzija während der Blockadejahre.
Michael MaarDie Schlange im WolfspelzDas Geheimnis großer Literatur
Rowohlt Verlag. 646 Seiten. 34 Euro
(
Bestellen)
Mit den Jahren wachsen die Bücherregale, ab und an empfiehlt sich ein kleiner Überblick. Diese Saison am besten mit dem Germanisten und Literaturkritiker Michael Maar, der uns mit
prallem Leserwissen zum Lesen und Wiederlesen, aber auch zum Vergleich und zur
Beurteilung von Büchern anstiftet, wie Gisela Trahms in der
Welt verspricht. Wenn Maar sie in seiner
Stilkunde in schweifenden Beobachtungen zu Hildegard Knefs Biografie und Christa Wolfs "Kunstprosa", Goethe und Mann, Kafka und Henscheid führt, erkennt die Kritikerin einmal mehr den "
Sprachbesessenen". In der
Zeit lässt sich auch Adam Soboczynski gern durch die Literaturgeschichte führen: Stilistische Grundregeln werden hier erläutert, Stilblüten ebenso kritisiert wie die überkandidelte Prosa der Romantiker.
SZ-Kritiker Hilmar Klute erscheinen die behandelten AutorInnen fast wie "Prüflinge", wenn Maar ihnen
klug und unerbittlich auf die Finger schaut. Mit Humor und Ironie lernt Klute bei Maar, gute von schlechten SchriftstellerInnen zu entscheiden. Und Maar selbst kann sich mit den ganz großen Aphoristikern messen, findet er.
Sachbuch
Christopher Clark
Gefangene der Zeit
Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump
Deutsche Verlags-Anstalt. 336 Seiten. 26 Euro
(Bestellen)
In diesen dreizehn Essays, die nun erstmals auf Deutsch vorliegen, schlägt der britische Historiker Christopher Clark
verblüffende Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart, staunen die KritikerInnen. Wenn Clark hier die Macht von
Nebukadnezar und Judith Butler vergleicht, die medienverliebte Großmannssucht von
Donald Trump und Kaiser Wilhelm II. untersucht oder die Bismarck-Verehrung des Spindoctors Dominic Cummings aufgreift, erkennt
Dlf-Kultur-Kritiker Jörg Himmelreich, wie hinderlich es für die Geschichtsschreibung ist, dass ihr jeder Sinn fürs Zufällige abgeht. Auch dem
SZ-Kritiker Gustav Seibt eröffnen sich hier ungeahnte Parallelen, etwa mit einer Studie zum Königsberger Religionsstreit, zum Thema Öffentlichkeit und Vernunft. Mit Clark lässt sich tatsächlich
aus der Geschichte lernen und anschaulich schreiben kann er außerdem, versichert Seibt. In der
Welt feiert Dirk Schümer Clark gar als
intellektuellen Weltbürger und Geschichtserzähler - und will dessen
"Schlafwandler" und die Debatten darum inzwischen selbst schon in die Zeitgeschichte einordnen. Dass dem Historiker die Lektüren der Poststrukturalisten bis heute nützen, erkennt Schümer, wenn Clark etwa das Funktionieren von Macht beschreibt.
Belarus!Das weibliche Gesicht der Revolution
Edition Foto Tapeta. 200 Seiten. 15 Euro
(
Bestellen)
Es sind vor allem die Frauen, die in Belarus mit
Würde und Mut auf die Straßen gehen,
schrieb Elke Schmitter, die auch einen Text für den Band verfasst hat, vor einiger Zeit bei
Spiegel Online - und wunderte sich, weshalb sie so "
merkwürdig allein" mit ihrem Protest bleiben. Umso schöner ist es, dass die Edition Fototapeta nun dieses Buch herausbringt mit Essays, Streitprotokollen und Solidaritätserklärungen von
23 Schriftstellerinnen aus Polen und Russland. Ein Wagnis, dreißig sehr unterschiedliche Texte mitten aus der
Hitze des Geschehens zu veröffentlichen, findet Sabine Adler im
Dlf-Kultur. Aber allein das Gedicht am Anfang des Bandes ist ein "Höhepunkt", meint sie und zitiert: ""Als Erbstück erhielt ich / meine Angst - / eine Familienreliquie, / ein wertvoller Stein, / weitergegeben / von Generation zu Generation..." Zudem kann Kritikerin in den Analysen, Reportagen und Essays nachvollziehen, warum es in diesem höchst patriarchalen Land gerade Frauen sind, denen der große Erfolg einer nationalen Einigung in der Opposition gelingen konnte. "Sie schaffen ein
Gegenbild zum jämmerlichen Machismo eines Alexander Lukaschenko, der von sich behauptet, die Last, die er trage, könne gar keine Frau tragen",
schreibt Frank Herold im
Tagesspiegel. Im
Perlentaucher haben wir bereits im November einen
Vorabdruck aus dem Buch veröffentlicht.
Susie HodgeDie KünstlerinnenWerke aus fünf Jahrhunderten
Laurence King Verlag. 224 Seiten. 18 Euro
(
Bestellen)
Wer hat schon mal etwas von Sofonisba Anguissola gehört? Es ist einer der Vorzüge unserer Zeit, dass längst überfällig auch die vergessenen und
verborgenen Künstlerinnen entdeckt werden. Diesen hat die britische Kunsthistorikerin Susie Hodge jetzt einen Band gewidmet, den bisher nur Anne Kohlick im
Dlf Kultur besprochen hat. Die empfiehlt ihn aber nachdrücklich, denn vergessene Malerinnen, Bildhauerinnen, Grafikerinnen von der Renaissance bis heute stellt Hodge ihr in ihrer rein weiblichen Kunstgeschichte im Kontext von Stilen und Strömungen und den Rahmenbedingungen der Kunst und der künstlerischen Bildung vor. Die
60 Werkanalysen von barocken Stillleben bis zu zeitgenössischen Performances und Installationen zusammen mit den Farbabbildungen ergeben für Kohlick ein ansprechendes, gut lesbares wie
informatives Kompendium. Gern verzeiht Kohlick da, dass der dritte Teil des Bandes mit kurzen Texten zu Akademien und "Abstrakter Kunst" eher im Allgemeinen verbleibt. In diesem Kontext lohnt sich bestimmt auch ein Blick in
Sean O'Tooles Entdeckung der in Südafrika geborenen
expressionistischen Malerin "Irma Stern" (
bestellen), die Eva Hepper im
Dlf Kultur als herrlich "anschaulich" erzählte Abenteuergeschichte empfiehlt.
Alex RossDie Welt nach WagnerEin deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne
Rowohlt Verlag. 912 Seiten. 40 Euro
(
Bestellen)
Noch eine Richard-Wagner-Biografie? Ja! Und zwar die des Musikkritikers des
New Yorker, Alex Ross. Meinen zumindest die Kritiker. Wolfram Goertz in der
Zeit etwa, der die 900 Seiten so hingerissen wie leichthin gelesen hat. Denn hier geht es nicht nur um Wagner, sondern gleich um den
gesamten Rest der Welt, versichert Goertz, der hier Kenntnisreichtum,
Anekdotisches und gute Lesbarkeit aufs Schönste vereint findet. Zudem ist Ross gelernter Komponist, also musikalisch überaus versiert, versichert Goertz, der hier auch lernt, Leitmotive wiederzuerkennen. Natürlich geht es auch um Hitler, um Antisemitismus, um Größenwahn, aber Ross schreibe so
schwungvoll, dass er vor allem von Liebe und Bewunderung zu diesem großen Komponisten und Visionär getragen scheine. Wie sehr Wagner auch andere Kunstformen, aber auch Psychologie, Philosophie und Politik beeinflusste,
erfährt Robert Jungwirth von
br Klassik, für den das Buch weniger Biografie denn
Kulturgeschichte ist. Ross' Überschwang verzeiht er gern den gelegentlichen Mangel an Stringenz.
Philippe SandsDie Rattenlinie - Ein Nazi auf der FluchtLügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit
S. Fischer Verlag. 544 Seiten. 25 Euro
(
Bestellen)
Schon
"Rückkehr nach Lemberg", in dem der britisch-französische Jurist Philippe Sands seine jüdisch-galizische Familiengeschichte erzählte, wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Jetzt widmet sich Sands der sogenannten "Rattenlinie", jener berüchtigten
Fluchtroute der Nazis über den Vatikan nach Argentinien. Im Mittelpunkt steht dabei das Schicksal des SS-Offiziers und NS-Gouverneurs
Otto Wächter, der nach 1945 als Massenmörder gesucht wurde. Der in der
NZZ rezensierende Schriftsteller
Cees Nooteboom erfährt hier denn auch viel über den
fanatischen Klerikalfaschismus: Geradezu transparent kann ihm Sands begreifbar machen, wie der Klerus den versprengten, in Waldhütten sich vor dem Zugriff der Alliierten entziehenden Nazis zur rettenden Flucht verhalf. Leidenschaftlich empfiehlt er das Buch. Wie einen
Pageturner verschlingt auch Marc Reichwein in der
Welt das Buch, vor allem jene Kapitel, in denen Sands der Frage nachgeht, ob Wächter ermordet wurde. Sands erscheint ihm nicht nur als
genialer Erzähler, sondern auch als investigativer Reporter und
Aufklärer. Beispielsweise dann, wenn er ihm aufzeigt, wie ruchlos der österreichische Bischof Alois Hudal wirkte, der auch Eichmann, Mengele und Priebke über Rom zur Flucht verhalf. Nur in der
SZ stört sich Fabian Wolff an "Reporterklischees" oder "Cliffhangern".