Efeu - Die Kulturrundschau
Zur Weltmetapher werden
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Kunst
Der Goldene Löwe der diesjährigen Biennale geht an den australischen Künstler Archie Moore, berichtet Jörg Häntzschel in der SZ. Moore, der von den Kamilaroi und Bigambul abstammt, hat "seinen Stammbaum mit Kreide an die Wände gezeichnet. Er umfasst 3.500 Personen und reicht Hunderte Jahre zurück. Immer wieder sind darin Lücken zu sehen, weil die Genealogie der First Nations oft undokumentiert blieb. Moore erklärte, er wolle mit seiner Arbeit an die Unterdrückung der Aborigines durch die europäischen Siedler erinnern. 'Wir sind alle eins und tragen gemeinsam die Verantwortung für alle Lebewesen, jetzt und in der Zukunft', sagte er." Damit gewinnt "die strengste, stillste und konzeptuell stringenteste unter den Länderbeiträgen der Biennale. Sie kommt ohne Bilder und ohne Farbe aus und stellt damit nicht nur ein radikales Gegenprogramm zu den meisten Pavillons dar, sondern hebt sich auch von der Ästhetik vieler anderer indigener Künstler auf der Biennale ab." Der Preis für die besten Künstler ging an das neuseeländische Mataaho Collective, so Häntzschel.
Viele wertvolle und seltene Exponate bekommt FAZ-Kritiker Tilmann Spreckelsen in einer Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zu sehen: "Welterbe des Mittelalters: 1.300 Jahre Klosterinsel Reichenau" hat nicht weniger als "fünf der zum UNESCO-Welterbe zählenden Reichenauer Prachthandschriften" zu bieten, staunt Spreckelsen, und das ist nicht alles: "Gezeigt werden etwa ein kostbarer Schrein mit Reliquien des Klostergründers Pirmin und ein Armreliquiar der heiligen Verena, ebenfalls im Bodenseeraum tätig und berühmt dafür, Schlangen und anderes Gewürm vertrieben zu haben. Pirmin leistete dasselbe auf der Reichenau, und angeblich soll die umliegende Seeoberfläche drei Tage lang von davonziehenden Reptilien gewimmelt haben." Auch Johann Schloemann jubelt in der SZ über diese "prächtige" Ausstellung.
Besprochen werden die Ausstellung "War Requiem" mit Werken des israelischen Filmemachers Amos Gitai in der Salzburger Villa Kast (Welt) und die Ausstellung "Nova" von Li Zhi in der Galerie Bernet Bertram in Berlin (tsp).
Film
Weiteres: Die Regisseurin Kat Rohrer, die mit "What a Feeling" gerade die erste queere Komödie aus Österreich vorgelegt hat, spricht im Standard mit Valerie Dirk über den Stand der Dinge der queeren Repräsentation im österreichischen Film. Besprochen werden Ryūsuke Hamaguchis "Evil Does Not Exist" (Jungle World, FAZ, mehr dazu bereits hier), Martin Durkins auf Youtube gezeigter, klimawandel-skeptischer Film "Climate: The Movie" ("ein völlig irreführendes Zerrbild von der Klimaforschung und der Klimapolitik", findet Sven Titz in der NZZ), Mark Salisburys Bildband "Being Bond: Daniel Craig - Ein Rückblick" (FD) und die Amazon-Serie "Fallout" nach dem gleichnamigen Videospiel (FAZ).
Und beim Lichter-Filmfestival in Frankfurt unterhielt sich der Filmemacher Christoph Hochhäusler mit den Architekten Dietmar Feistel und Hugo Herrera Pianno über die Zukunft von Kino-Architektur:
Musik
Elmar Krekeler sorgt sich im Welt-Kommentar nach dem Herrenberg-Urteil (das Musikhochschulen dazu verpflichtet, "bisherige Honorarkräfte (die bis zu 70 Prozent aller Unterrichtsstunden bestreiten) sozialversichert anzustellen") um die Zukunft des Musikstandorts Deutschland. Da sich die Kommunen eher schwer damit tun, ihre zur Verfügung gestellten Mittel dem Urteil gemäß adäquat aufzustocken, werde wohl eher eine ausgedünnte Personaldecke die Folge sein. "Damit würden - wenn von den Kulturverantwortlichen auf allen Ebenen nicht ganz schnell über neue Strukturen nachgedacht wird - alle verlieren: Das Lehrpersonal, das seinen Lebensunterhalt verliert, die Schüler, die mit einem ausgedünnten Angebot auskommen müssen. Und das in einer Zeit, in der Musikunterricht auch an allgemeinbildenden Schulen zunehmend bedroht ist. Die vom Ausland bewunderte (Schein-)Idylle wird die deutsche Musiklandschaft so nicht lange bleiben."
Weitere Artikel: In der Presse sinniert Wilhelm Sinkovicz über Bruckners Verhältnis zu Gott. Jan Brachmann schreibt in der FAZ zum Tod des Dirigenten Sir Andrew Davis. Christoph Dieckmann schreibt auf Zeit Online einen Nachruf auf Dickey Betts von den Allman Brothers. Tye Maurice Thomas erinnert im Tagesspiegel an den indischen Musiker Kamalesh Maitra, der deißig Jahre lang in Berlin lebte und vor hundert Jahren geboren wurde. Und im FAZ-Bücherpodcast plaudert Dietmar Dath über sein Buch über Miley Cyrus.
Besprochen werden die postum veröffentlichten Vorlesungen des Poptheoretikers Mark Fisher (Jungle World) und das neue Album von Taylor Swift (Welt, mehr dazu bereits hier).
Literatur
Weitere Artikel: Der Schriftsteller Michal Hvorecký erzählt im Standard von seiner Reise auf Kafkas Spuren in die Hohe Tatra. Außerdem verneigt sich der Autor Hans Platzgumer im Standard vor Kafka. Die Comiczeichnerin Josephine Mark gibt im Tagesspiegel-Fragebogen Einblick in ihre Arbeit. Der Schriftsteller Christoph W. Bauer gratuliert im Standard seinem Kollegen Robert Schindel zum 80. Geburtstag. Im Literaturfeature für Dlf Kultur wirft Miriam Zeh einen Blick auf "die neue Solidarität am Buchmarkt".
Besprochen werden unter anderem Vigdis Hjorths "Ein falsches Wort" (FR), der Briefwechsel zwischen Virginia Woolf und Vita Sackville-West (NZZ), Percival Everetts "James" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Christina Röckls "Bus" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Urs Heftrich über Iwan Frankos "Es liegt ein Dorf im Tale drin":
"Es liegt ein Dorf im Tale drin,
Darüber schwebt der Nebel hin.
Und beim Dorfe hoch am Hang ..."
Bühne
Einen Fassbinder-Film auf die Bühne bringen? Judith von Sternburg hat in der FR einige Bedenken. Und so ganz kann Lilja Rupprechts Adaption von "Die Ehe der Maria Braun" am Schauspiel Frankfurt diese auch nicht zerstreuen. Dazu hat Sternburg doch viel zu sehr die grandiose Vorlage im Kopf, die das Schicksal von Maria und gleichzeitig deutsche Geschichte vom Ende des Krieges bis Mitte der Fünfziger Jahre erzählt. Aber, es gibt dann noch ein "kleines Wunder" für die Kritikerin und das Theater kann sich mit seinen eigenen Mitteln behaupten: "So. Und dann kommt die Szene, in der Maria für ihren neuen Arbeitgeber mit einem Ami verhandelt. Rupprecht blendet nicht weg (aber Text gibt es auch nicht), sondern sie lässt Manja Kuhl tanzen und der Ami, Michael Schütz, tanzt gleich mit, und der Unternehmer und Geliebte in spe, Sebastian Reiß, tanzt dann auch mit, und schließlich tanzen alle nach Marias ziviler Pfeife. Und da ist auf einmal eine Leichtigkeit, die nicht läppisch ist, sondern bezaubernd."
Auch Sandra Kegel ist in der FAZ zufrieden mit diesem Theaterabend: "Die Inszenierung ist ideenreich, es wird gesungen und getanzt, mit in den Fünfzigerjahren aus Amerika importierten Hula-Hoop-Reifen hantiert und mit Sitzbällen, die zur Weltmetapher werden im beginnenden Kalten Krieg. Trotz aller Showeinlagen aber steht im Vordergrund der Text."
Weitere Artikel: Zum hundertsten Todestag von Giacomo Puccini zeigt Bertelsmann in Berlin die Multimedia-Ausstellung "Opera Meets New Media - Puccini, Ricordi und der Aufstieg der modernen Unterhaltungsindustrie"(gelungen", in "ihrer virtuellen Fülle allerdings überbordend" findet Manuel Brug in der Welt - Clemens Haustein bemängelt in der FAZ hingegen, dass hier der erfolgreiche Geschäftsmann zu sehr in den Vordergrund rückt und der Künstler ins Hintertreffen gerät.)
Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von "Rom" nach Shakespeare in einer Fassung von Julia Jost am Volkstheater Wien (nachtkritik), Toshiki Okadas Inszenierung seines Stücks "Home Office" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik), Jan Friedrichs Inszenierung von "Romeo und Julia … oder Szenen der modernen Liebe" nach Shakespeare am Staatstheater Mainz (nachtkritik, FR), Christian Breys Inszenierung der musikalischen Komödie "Zusammenstoss" nach Kurt Schwitters und Ludger Vollmer am Theater Heidelberg (nachtkritik), das musikalische Stück "Signal To Noise" der Theatergruppe Forced Entertainment im Frankfurter Mousonturm (FR), Alexander Giesches Adaption von Tennessee Williams Roman "Moise und die Welt der Vernunft" am Zürcher Schauspielhaus (NZZ) und Stefan Puchers Inszenierung von Hermann Melvilles Roman "Moby Dick" am Münchner Residenztheater (SZ).