Setzt der Westen zu Unrecht seine Hoffnungen auf die
russische Jugend und die Studenten? Darüber führen Olga Tschadajewa und Jitka Komendová ein eindrückliches
Gespräch mit der St. Petersburger Philosophieprofessorin, Künstlerin und Aktivistin
Maria Rachmaninowa, die Russland zu Beginn des Krieges verlassen hat, nachdem sie an der Universität nicht mehr offen sprechen durfte. Nach Rachmaninowas Erfahrung sind Studenten ein
unbeschriebenes Blatt mit allen möglichen Anlagen - auch für die Freiheit -, doch würden diese Anlagen aktiv von der älteren Generation unterdrückt, die noch dem imperialen, sowjetischen Denken verhaftet sei. Das gegenwärtige russische Regime fördere eine
träge Persönlichkeitsstruktur mit ihren schlimmsten Merkmalen: "Infantilität, Verantwortungslosigkeit, Anbetung von Gewalt und eine Selbstgefälligkeit, die die eigene kulturelle oder ethnische Herkunft als einen Ablass nutzt." Die heutigen Studenten, so Rachmaninowa, seien seit ihrer Schulzeit von drei gefährlichen Faktoren geprägt: "Das Erste ist die Überzeugung, dass sie
Kinder seien. Die meisten Studenten sprechen so von sich, selbst mit zweiundzwanzig Jahren noch. Das Zweite ist die Überzeugung, dass alle Erwachsenen gleich sind und
immer Recht haben. Darin liegt die Gefahr einer Infantilisierung der Bürger, die wir in Russland beobachten können, einer bürgerlichen Hilflosigkeit und Passivität: Irgendwo entscheidet irgendjemand etwas für mich, da kommen ein paar Erwachsene und organisieren alles und machen es richtig, ich kann mich da nicht einmischen. (…) Und das Dritte ist die Überzeugung, dass
alles Unerfreuliche potenziell verdächtig ist, gefährlich und beunruhigend, verbunden mit Depression und irgendeiner Art von Psychopathologie. Wenn die Studenten in meinen Kurs kommen und über Themen nachzudenken beginnen, mit denen sich gelehrte Autoren befasst haben, machen sie sich zum ersten Mal bewusst, dass die Welt
kein Disneyland mit rosa Ponys ist, sondern dass es Probleme gibt, Orte des Konflikts, Traumata. Für sie ist das ein Schock."