9punkt - Die Debattenrundschau

Willkommenes Alibi

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2024. Jüdische Intellektuelle wie Judith Butler wollen sich durch ihre Israelkritik bei ihren Mitstreitern beliebt machen - die werden sich ihrer allerdings entledigen, sobald das Ziel erreicht ist, schreibt Michael Wolffsohn in der NZZ. Jungle World schaut sich an, wie ausgerechnet Jean Améry von Israelkritikern als Kronzeuge missbraucht wird. In der FAZ hält der Historiker Bernd Greiner nichts von den erneuten Diskussionen über "Abschreckung". In der Zeit streiten die HU-Professorin Manuela Bojadzijev und der bayrische Wissenschaftsminister Markus Blume über den Dozentenaufruf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2024 finden Sie hier

Ideen

"Dass Bildung und Moral, mit oder ohne akademische Titel, keine Einheit bilden, müsste eigentlich jeder wissen, der auch nur über geringes Geschichtswissen verfügt", konstatiert der Historiker Michael Wolffsohn angesichts der pro-palästinensischen Studenten-Proteste in der NZZ. Dabei erlegen jüdische Studenten aber auch Professoren dem Irrtum, dass sie von Antisemiten akzeptiert werden, wenn sie diese Demonstrationen unterstützten: "Jüdischer Juden- und Israelhass à la Judith Butler, Deborah Feldman oder Susan Neiman scheint wie, ist aber eben nicht die Eintrittskarte für den westlichen Wissens- und Kulturbetrieb. Sollten sie mit ihren Mitstreitern obsiegen, wird man sich ihrer entledigen. Denn dann hat der Jud seine für die Nichtjuden segensreiche Arbeit vollbracht. Der Jud kann gehn. (...) Unbestreitbar zählen, besonders in den USA, doch auch in Westeuropa, Juden zu den gegen Israel demonstrierenden Massen. Folglich, so das willkommene Alibi der nichtjüdischen Juden- und Israelhasser, könne ihr Anliegen nicht antisemitisch sein. Korrekt? Man schaue beidseits. Jenen Nichtjuden sind ihre jüdischen Mitstreiter, zumindest zeitweise, ein nützliches und daher willkommenes Alibi. Sie wären dumm, darauf zu verzichten."

In der Jungle World schaut sich Marlene Gallner derweil an, wie propalästinensische Intellektuelle jetzt auch noch ausgerechnet Jean Améry "als jüdischen Kronzeugen" für ihre Sache anführen. So beispielsweise in einem Essay des indischen Literaturkritikers Pankaj Mishra, der Ende März 2024 in der London Review of Books erschien. Zum einen strotze der Text "vor Lügen über Israel", zum Anderen gebe er Améry in reichlich verdrehter Version wieder: "Um Améry als Kronzeugen zu vereinnahmen, klaubt Mishra eine bestimmte Stelle aus dem Essay 'Grenzen der Solidarität' heraus. Darin erwähnt Améry mit Sorge die Gerüchte über die Folter palästinensischer Häftlinge in israelischen Gefängnissen. Der Beitrag zeigt jedoch, liest man ihn zur Gänze, dass Améry die Solidarität mit Israel auch angesichts solcher Anschuldigungen gerade nicht zurücknimmt. In seinen Essays betont er den entscheidenden Unterschied zwischen der Situation der Juden und der Situation der Palästinenser, den Mishra geflissentlich ignoriert. 'Es steht aber nicht Gefahr gegen Gefahr gleicher Ordnung', schrieb Améry 1976. 'Tatsache ist, daß die arabische Nation - von dem die 'Protokolle der Weisen von Zion' verbreitenden saudiarabischen Despoten über den religionsbesessenen Ghadafi bis zu dem, wie es heißt, 'gemäßigten' prowestlichen Sadat und dem sich als Marxisten verstehenden Habache (dem Gründer der PFLP; Anm. d. Red.) - wild entschlossen ist, den Staat Israel auszuradieren."
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Politik

Die HU-Professorin Manuela Bojadzijev, Mitunterzeichnerin des Dozentenaufrufs gegen die Polizeieinsätze an Berliner Unis, verteidigt die Studierendenproteste und ruft zum Dialog auf. Der bayrische Wissenschaftsminister Markus Blume hält ihr im Streit-Gespräch mit Mark Schieritz und Anna-Lena Scholz in der Zeit entgegen: "Meinungsfreiheit ist nicht grenzenlos". Bojadzijev beteuert, selbst "nie antisemitische Ausbrüche" erlebt zu haben und will auf pädagogische Mittel setzen: "Mich interessiert, was Studierende denken, warum sie zu bestimmten Parolen greifen. Meine Aufgabe ist zu verstehen: Warum sagen sie so etwas? Dann kann ich immer noch widersprechen. Glauben Sie mir, in den Seminaren wird vieles dahergesagt, auch Rassistisches, Sexistisches, die absurdesten Behauptungen. Da hilft es mir doch nicht, die Polizei zu rufen, da muss ich diskursiv intervenieren…" Blume weist daraufhin, dass sich nichtsdestotrotz jüdische Studierende an der Uni nicht mehr sicher fühlen würden und hält ihren Ansatz angesichts von "From the river to the sea"-Rufen und Forderungen nach einem Israel-Boykott für "naiv": "Wir reden ja hier nicht über eine nette Gesprächsrunde im Seminarraum, sondern über organisierte, extremistische Protestformen bis hin zu Gewaltaufrufen. Da bekomme ich wirklich Gänsehaut."

In der Nacht zum 14. Mai wurde das Holocaust-Mahnmal in Paris geschändet - ein "weiterer zynischer Dreh in der Eskalationsdynamik", kommentiert Sandra Kegel in der FAZ. Ausgerechnet am Jahrestag der ersten Massenverhaftungen jüdischer Bürger in Paris, sprayten Unbekannte rote Hände (ein Symbol, das mit den Schrecken der zweiten Intifada verbunden ist, erinnert Kegel) unter die Namen derjenigen, die während der NS-Zeit jüdischen Bürgern halfen.

In der Zeit zeichnen Amrai Cohen und Jan Ross die Geschichte der Freundschaft zwischen den USA und Israel nach, die in diesen Tagen zum ersten Mal in einer Krise steckt. Doch der Streit über die Militäroffensive in Rafah, vor der Joe Biden den israelischen Premier ausdrücklich gewarnt hat, ist grundlegender, meinen die Autoren: "Die USA setzen ihre Hoffnungen auf eine große regionale Neuordnung, und damit die Neuordnung eine Chance bekommt, muss aus Washingtoner Sicht erst einmal der Krieg in Gaza aufhören und mittelfristig ein Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern einsetzen. Ein Sieg über die Hamas wird aus dieser Perspektive zu einem nachrangigen Thema. Zum einen glaubt die amerikanische Regierung nicht daran, dass ein solcher Sieg möglich ist: Außenminister Antony Blinken wies kürzlich darauf hin, dass die Terrormiliz offenbar in bereits von den Israelis eroberte Gebiete des Gazastreifens zurückkehre und dass selbst nach einem Großangriff auf Rafah Tausende von Hamas-Anhängern übrig bleiben würden …" Netanjahu wolle zwar ebenfalls ein israelisch-arabisches Bündnis gegen den Iran, "und eine Aussöhnung mit Saudi-Arabien wünscht er sich als persönliches Vermächtnis. Doch die Hamas deswegen halbwegs überleben lassen und den Palästinensern die Aussicht auf einen Staat eröffnen - das will Netanjahu nicht."

Soll Europa eine Nuklearmacht werden? Wie steht es mit der "Abschreckung"? Der Historiker Bernd Greiner hält von solchen Überlegungen nichts, wie er in der FAZ schreibt, entsprächen sie doch einer "Logik aus der politischen Steinzeit". Die übliche Argumentation laute: "Abschreckung hat seit fast achtzig Jahren den Frieden gesichert. Überzeugen kann der Hinweis nicht. Denn der Feind, der vermeintlich nur durch Abschreckung im Zaum gehalten wurde, hatte bei Lichte besehen überhaupt keine Gelüste, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Heute hat man es zugebenermaßen mit weniger kalkulierbaren Akteuren zu tun. Aber Unkalkulierbarkeit mit einer Strategie zu begegnen, die ihrerseits nicht gänzlich kalkulierbar sein darf, um überhaupt Erfolg zu haben, ist eine merkwürdige Form politischer Logik."

Im NZZ-Interview mit Marco Kauffmann Bossart spricht der tibetische Exil-Regierungschef Penpa Tsering über die Pläne Chinas, Tibets Kultur dem kommunistischen Ideal anzugleichen. "Chinas Führung zielt darauf ab, die Identität der verschiedenen Nationalitäten zu zerstören; insbesondere in Tibet. Es wurden Internate eingerichtet, in denen alles auf Mandarin unterrichtet wird. Die Tibetisch-Lektionen wurden auf nur vier Stunden pro Woche reduziert. Die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten und die Prüfungen für chinesische Arbeitsplätze sind alle auf Chinesisch. So wird der Wert der Landessprachen verringert und damit das Fundament der nationalen Identität geschwächt." Trotzdem fordert Penpa Tsering und mit ihm der Dalai Lama keine Unabhängigkeit von China ein. "Wir streben keine Unabhängigkeit an. Aber trotzdem bezeichnet die chinesische Regierung den Dalai Lama immer wieder als Separatisten. Auch mich nennen sie einen Separatisten. Meine Frage an die chinesische Regierung lautet: Wer will sich von China trennen? Seine Heiligkeit wiederholt wie ein Mantra: Mittelweg, Mittelweg, Mittelweg. Und die Chinesen rufen: Separatist, Separatist, Separatist!"
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Religion

Der Religionspädagoge Mouhanad Khorchide beschwichtigt im Gespräch mit Arnfrid Schenk in der Zeit: Es gibt an den Universitäten kein Problem mit islamistischem Fundamentalismus, auch den Studiengang "Islamische Theologie" verteidigt er und führt eine Studie der Universität Münster an: Es "wurden bundesweit 250 Studierende der Islamischen Theologie an mehreren Hochschulstandorten befragt; das entspricht ungefähr 10 Prozent der Studierenden dieser Fachrichtung. Die meisten davon standen am Anfang des Bachelorstudiums. Im ersten Semester kommen viele mit patriarchalischen Vorstellungen, wollen in den Hörsälen getrennt sitzen. Aber nach ein paar Jahren an der Uni ändert sich das. Viele sagen mir am Ende des Studiums: Ich schäme mich dafür, wie ich damals gedacht habe." Nichtsdestotrotz ginge eine Gefahr von Gruppen wie Muslim Interaktiv oder Generation Islam aus - Khorchide spricht sich für ein Verbot aus.
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Stichwörter: Islamismus, Islam

Europa

Florenz könnte ab dem 9. Juni einen deutschen Bürgermeister haben: Eike Schmidt, von 2015 bis 2023 Leiter der Uffizien, kandidiert als Kandidat der Fratelli d'Italia und Lega Nord, schreibt Ulrich Ladurner in der Zeit. Rechtsradikal möchte er aber nicht sein. "'Die Fratelli d'Italia sind keine rechtsradikale Partei!'" Trotzdem, so Ladurner, biete er rechtsradikalen Kandidaten eine Bühne: "Nachdem die Fotos geschossen sind, sagt einer der drei Kandidaten: 'Jetzt greifen sie uns an, weil wir schon wieder mit den Deutschen zusammenarbeiten.' (...) Das 'schon wieder mit den Deutschen' mag man für den geschmacklosen Scherz eines unbedeutenden Kandidaten der Fratelli d'Italia halten. Doch geht es in dieser Geschichte eben auch um die Gesellschaft, in die sich ein international renommierter deutscher Museumsmanager begeben hat, um Bürgermeister von Florenz zu werden. Dieser Mann, der so einen fragwürdigen Witz reißt, gehört dazu (...) - und vermutlich eine ganze Reihe anderer Figuren, die aus dem dunklen Unterholz dieser Parteien auftauchen. Die Strahlkraft des Kandidaten nutzen sie als Legitimationsquelle: Wenn einer wie er für uns kandidiert, dann können wir so böse nicht sein!"
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