Onur Erdur

Schule des Südens

Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie
Cover: Schule des Südens
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2024
ISBN 9783751820202
Gebunden, 335 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

In seiner Ideengeschichte in acht Porträts erschließt Onur Erdur eine neue Geografie des französischen Denkens, das die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte: Die Theorien von Intellektuellen wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Hélène Cixous wurden maßgeblich in Nordafrika oder in der Auseinandersetzung mit den französischen Kolonien geformt. Erdurs Spurensuche führt ihn nach Algier, wo der junge Soldat Pierre Bourdieu mitten im Algerienkrieg seinen Wehrdienst ableistet; ins Küstendörfchen Sidi Bou Saïd nördlich von Tunis, wo Michel Foucault zwischen Sonnenbaden, Strandspaziergängen und ritualisierter Körperkultur zu einer Haltung des philosophischen Hedonismus gelangt; oder nach Casablanca, wo sich Roland Barthes in einer Art Erleuchtung zu einem Romancier fantasiert - und zu Jacques Derrida, Hélène Cixous oder Jacques Rancière, die ihre algerische Herkunft philosophisch reflektieren. Onur Erdurs Perspektive taucht die französisch geprägte Postmoderne ins Licht der Sonne Nordafrikas. Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Hauptwerke des Poststrukturalismus blickt Schule des Südens unter das Pflaster der französischen Akademie - darunter glänzt der Strand von Tunis.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 20.04.2024

Onur Erdurs Essay "Schule des Südens" arbeitet die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart der sogenannten "französischen Theorie" auf äußerst lesenswerte Weise heraus, befindet Rezensent Jörg Später. Der Historiker zeigt anhand der Biografien von zwischen 1915 und 1940 geborenen Intellektuellen wie Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Jacques Derrida und Helène Cixous, welche Bedeutung der Kolonialismus für die poststrukturalistische Theoriebildung hatte. So entwickelt Bourdieu seine Theorie des Habitus beispielsweise während seines Militärdienstes in Algerien und in Auseinandersetzung mit der systematischen Ungerechtigkeit der französischen Besatzung sowie, schließlich, mit der Gewalt des Dekolonisierungskrieges. Derrida und Cixous eint ihre algerisch-jüdische Herkunft sowie die Erfahrung der des Entzugs der französischen Staatsbürgerschaft durch das antisemitische Vichy-Regime - Erfahrungen, die sich in ihren Differenzphilosophien zweifellos niederschlagen. Allein Foucault, Denker von Ordnung und Macht, erscheint in Erdurs Darstellung als westlicher Dandy, der zu den neokolonialen Bedingungen in dem Dorf nahe Tunis, in dem er sich aufhält, als er erstmals den Diskursbegriff definiert, schweigt. Mit Augenmaß und historischer Genauigkeit, ohne Determinismus oder Biographismus, zeigt der Autor Später zufolge, wie gelebte Erfahrung und philosophisches Werk miteinander korrespondieren. Erdurs "Schule des Südens" kann er allen Philosophie-Interessierten als heißen Tipp empfehlen.