9punkt - Die Debattenrundschau
In dieser Gespaltenheit
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Gesellschaft
Zornig antwortet die Frauenärztin Kristina Hänel bei humanistisch.net auf einen Artikel des Richters und beliebten Kolumnisten Thomas Fischer, der nicht nur dezidiert am Informationsverbot über Abtreibungen festhalten will, sondern Haenel auch noch als diejenige attackierte, die eine Kampagne losgetreten habe (als sei nicht sie juristisch attackiert worden). Nebenbei stellt sich heraus, das Fischer Autor eines maßgeblichen Strafrechtskommentars ist, der zuvor von dem fanatischen Lebensschützer Herbert Tröndle betreut worden war (unser Resümee). Haenles Argument gegen Fischer: "Für Herrn Fischer ist es keine Tatsache, sondern angeblich Stimmungsmache, dass viele Ärzte keine Adressen weitergeben, ebenso wie Beratungsstellen dies teilweise auch nicht tun. Dass Frauen wieder vermehrt ins Ausland fahren, weil immer weniger Ärztinnen und Ärzte Abbrüche in ihrem Leistungsspektrum anbieten. Dass es für mich wie Hohn klingt, wenn behauptet wird, ich würde für Abbrüche in meiner Praxis werben, nur weil ich möchte, dass Frauen sich vor dem Eingriff über die Risiken, mögliche Komplikationen und Kontraindikationen informieren."
"Politclown" Dieter Kunzelmann ist tot, meldet Stefan Reinecke in der taz und verschweigt nicht, dass "Kunzelmann für eine der abgründigsten Taten der Szene verantwortlich ist - den Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Westberlin 1969, gezielt am Jahrestag des Nazipogroms, dem 9. November, inszeniert". In der FR schreibt Arno Widmann: "Solange er den Till Eulenspiegel gab und dem Establishment zeigte, wie es aussah, solange hatte er etwas zu sagen. Sobald er die Machtfrage stellte und glaubte, selbst etwas sagen zu müssen, schämte man sich, jemals über seine Scherze gelacht zu haben. Er ist gerade in dieser Gespaltenheit ein Stück bundesrepublikanischer Nachkriegsgeschichte. Er war ein bundesrepublikanischer Charakter: in seinem Witz und in seinem Antisemitismus." Weitere Nachrufe in SZ und Zeit.
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat einen Shitstorm entfacht, als er das rüpelhafte Verhalten eines dunkelhäutigen Radfahrers ansprach. Sehr glücklich hat er sich dabei nicht ausgedrückt, aber ihm Rassismus vorzuwerfen, findet der Dramaturg Bernd Stegemann in der Zeit völlig überzogen und kontraproduktiv: "Der Islamismus mag importiert sein, der empörte Moralismus ist ein heimisches Gewächs... Eine seiner schlimmsten Folgen besteht darin, dass die Bereiche der Sprachlosigkeit immer schneller zu Räumen der Ohnmacht werden. Soll diese Ohnmacht nicht durch rechte Lösungen zu neuer, alter Stärke finden, dann braucht es viel mehr tragische Helden und vor allem Mitbürger, die ihnen im Shitstorm beistehen. Und es braucht Vorschläge, wie öffentlich über ein Fehlverhalten von Flüchtlingen diskutiert werden kann, ohne dass automatisch der Vorwurf des Rassismus ertönt."
Europa
Politik
Kulturpolitik
Die Rückgabe von neun Objekten an die #Chugach soll der Beginn einer neuen Kooperation mit dieser Gruppe aus Alaska sein pic.twitter.com/cO1u7lTaSg
- Hermann Parzinger (@hparzinger) 16. Mai 2018
Am Mittwoch übergab die Stiftung Preußischer Kulturbesitz dem Vertreter der indianischen Chugach Alaska Corporation, John Johnson, neun Objekte aus dem Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, die einst durch Grabplünderungen in den Besitz des Museums gekommen waren, melden Tagesspiegel und Berliner Zeitung. Nikolaus Bernau (Berliner Zeitung) hat sich deshalb den vom Deutschen Museumsbund herausgegebenen "Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten (hier)" noch einmal genauer angesehen und stellt Grundsatzfragen: "Was ist überhaupt Afrika? Mit wem muss verhandelt werden? Wessen Herrschaftsansprüche können bestätigt, welche müssen hinterfragt werden? Wer finanziert die nötigen neuen Museen?"
Bislang gab es allerdings kaum offizielle Anfragen nach Restitution von Raubgütern. Das wundert den Ethnologen Karl-Heinz Kohl in der FAZ nicht. Zu zerrissen sind häufig die Staaten, die aus den Kolonialreichen hervorgingen. Es gebe "auch in den unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonialstaaten immer noch an den Rand gedrängte und rechtlose ethnische Minderheiten. Das gilt nicht nur für Afrika. Häufig sind es solche Lokalkulturen, die in relativer Abgeschiedenheit ihren jeweils eigenen Kunststil entwickelten, von denen die Glanzstücke ethnologischer Museen stammen. Würden sie selbst Rückgabeforderungen vortragen und so auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen, wäre dies durchaus nicht im Sinne der derzeit Regierenden."
Religion
Internet
Medien
Das Bundesverfassungsgericht bewertet derzeit die Rechtmäßigkeit der pauschalen Rundfunkabgabe. Auf Zeit online berichtet Heinrich Wefing vom ersten Tag und stellt erstaunt fest, dass doch "überraschend grundsätzliche Fragen" gestellt wurden. Weniger erstaunlich findet er die Reaktionen der anwesenden Intendanten: "Sie ergingen sich vornehmlich in Selbstlob, mitunter hart am Rande des Erträglichen."
In der SZ findet Claudia Tieschky die Verhandlung überfällig, denn: "Ins Extrem gedacht, erlaubt die Zwangsabgabe die größtmögliche Brüskierung des Publikums: Theoretisch muss es diesen Rundfunk nicht einmal mehr kümmern, wenn ihn sein Publikum nicht mag, es kann ihn ja nicht abbestellen. Dabei leben TV, Radio und Web, auch wenn sie demokratisch wertvoll sind, eben nicht von Zwang. Sondern von der Gunst des Publikums."
Ideen
Perlentaucher Thierry Chervel fragt in einem Essay woher der Populismus kommt und ob wirklich das immer wieder angeprangerte Internet daran schuld ist - zunächst einmal sei festzustellen: "In Deutschland leidet die Debatte über den Populismus allein schon daran, dass ihr Blick ausschließlich nach rechts geht. Ob man 'mit Rechten reden' solle, fragt eines der erfolgreichsten intellektuell-politischen Bücher, die 2017 in Deutschland erschienen sind. Da ist der Fehler schon passiert. Denn wer nur in eine Richtung blickt, übersieht die Feinde im eigenen Rücken. Die Demokratie ist von vielen Feinden umstellt. Sie kommen von links, von rechts und von oben - wenn man religiöse Fundamentalisten so verorten will." Der Beitrag entstammt einer Festschrift zum 70. Geburtstag Winfried Kretschmann.
Die Welt publiziert den Essay des Herausgeber des Bandes, Thomas Schmid, mit einer recht provokanten These: "Öffentlichkeit als allzeit verbindliches Gebot überfordert Menschen und Gesellschaften. Öffentlichkeit braucht ihr Gegenstück, das Nichtöffentliche, auch das Geheimnis."